„Jahr100Wissen“ heißt eine Reihe an der Bergischen Universität, in der sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit genau einhundert Jahre zurückliegenden Ereignissen beschäftigen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben. Eines dieser „Jahrhundertereignisse“ fand am 2. Juni 1920, Dienstag vor 100 Jahren, statt.
Da wurde in Włocławek in Pommern (späterer deutscher Name: Leslau) der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki geboren. Der Wuppertaler Germanistik-Professor Matías Martínez hat sich über Reich-Ranickis bewegte Lebensgeschichte, bissige Kommentare und dessen Rolle im Literaturbetrieb der Bundesrepublik geäußert. Wir veröffentlichen Auszüge aus dem Interview.
Reich-Ranickis, der „Literaturpapst“
Martínez: „Den Titel verdiente er sich durch brillant geschriebene Kritiken, aber auch durch seine erstaunliche Belesenheit, unermüdliche Produktivität und große mediale Präsenz über ein halbes Jahrhundert hinweg. Er war Feuilleton-Mitarbeiter der „Zeit“ (1960-1973) und Literatur-Leiter der FAZ (1973-1988). Im Fernsehen war er vor allem mit dem „Literarischen Quartett“ (1988-2002) erfolgreich. Außerdem schrieb er über 20 Bücher, gab zahlreiche Anthologien heraus, war Mitbegründer des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs (1977) und vieler anderer literarischer Institutionen.
Reich-Ranicki war mit seinen Kritiken auch deswegen so erfolgreich, weil er eine Literatur favorisierte, die anspruchsvoll, aber für ein allgemeines Publikum zugänglich war. Unterhaltsam war für ihn kein Schimpfwort. Außerdem verstand er es, die Analyse literarischer Texte mit anekdotischen Details zu würzen.“
Reich-Ranickis beißende Kritik
Martínez: „Er wollte gewiss provozieren, um für die Literatur und wohl auch für sich selbst Aufmerksamkeit zu erregen. Aber die Aufgabe der Literaturkritik ist ja eben, anders als die der Literaturwissenschaft, die publikumswirksame Beurteilung und Bewertung von Literatur. Kritiker sind wichtige Akteure auf dem literarischen Markt, der heute mehr denn je in Konkurrenz zu anderen Medien steht.“
Reich-Ranicki aus heutiger Sicht
Martínez: „Wichtiger als die Kritiken und Bücher – obwohl diese immer noch gut zu lesen sind – ist aus heutiger Sicht vielleicht Reich-Ranickis zentrale Rolle im Literaturbetrieb der Bundesrepublik. Deren Bedeutung kann man neutraler analysieren, nachdem der Pulverdampf der Aktualität sich gelegt hat.“
- Das komplette Interview findet ihr hier.